«Was heisst schon bürgerlich?», fragt Patrick Marcolli in seinem Wochenkommentar. Er skizziert dabei eine historische Trennlinie zwischen «Bourgeoisie» und Arbeiterklasse, die sich heute längst überholt habe. Und er hat recht damit. Denn der Begriff «bürgerlich» kann heute eigentlich nur noch als Sammelbegriff für Parteien verstanden werden, die ebendiesem Bürgertum entsprungen sind. Politisch ist er beliebig geworden. Bis zu einem gewissen Grad ist dies der Verdienst der Bürgerlichen selbst, die es mit ihrer Politik im letzten Jahrhundert geschafft haben, breite Bevölkerungskreise am bürgerlichen Wohlstand teilhaben zu lassen. Durch eine liberale Wirtschafts- und Sozialpolitik, die im richtigen Moment Konzessionen an die Sozialpartner gemacht hat. Man denke nur an die Entstehungsgeschichte der AHV, wo Arbeitnehmerverbände, SP und FDP zusammenfanden und der freisinnige Bundespräsident Walther Stampfli 1944 die Einführung der AHV verkündete.
Heutige Konfliktlinien liegen anders
Der richtige Ansatz ist heute daher nicht, und da irrt Marcolli meines Erachtens, diesen zweidimensionalen Gegensatz neu aufleben lassen zu wollen oder den Bürgerlichkeitsbegriff neu zu definieren. Vielmehr verlaufen die politischen Konfliktlinien heute zwischen drei Polen, nämlich dem freiheitlichen, dem konservativen und sozialen Pol. Oder wenn es schon zweidimensional sein soll, dann verläuft der Konflikt vielmehr zwischen Kollektivismus und Individualismus.
Auch in Basel lässt sich dies beobachten. Die Linke verficht in ihrer Politik eine ganz konkrete Vorstellung der idealen Gesellschaft: Man wohnt in einer Genossenschaft, besitzt kein Auto, ernährt sich vorwiegend vegetarisch, beide Eltern haben Teilzeit zu arbeiten, usw. Wer diesem Idealbild nicht entspricht, widersetzt sich den Interessen des Kollektivs und muss daher mit Pranger, Einschränkungen und Verboten auf den richtigen Weg gebracht werden.
Individuelle Freiheit ist der Schlüssel
Wenn Marcolli den Schlüssel in der Frage der individuellen Freiheit sieht, dann liegt er deshalb absolut richtig. Seit langem versuchen die kollektivistischen Sozialdemokraten, diesen Begriff für sich zu beanspruchen. Sie verstehen zwar darunter ebenfalls die Freiheit, so zu leben wie sie es möchten. Darin stimmen sie mit den Individualisten überein. Sie vertreten dabei jedoch einen völlig anderen Freiheitsbegriff. Fehlen dem Individuum nämlich die erforderlichen Mittel, um dem eigenen Wunsch entsprechend zu leben, liegt es am Staat, dies zu ermöglichen. Finanziert wird das selbstverständlich von den «Reichen», dem klassischen Feindbild der Linken. Dem treten all diejenigen entgegen, die sich für echte individuelle Freiheit einsetzen. Dabei an vorderster Front: Die Freisinnigen, deren Leitgedanke es seit jeher ist, dem Individuum möglichst wenig staatlich verursachte Hürden in den Weg legen und den Pfad zum selbsterarbeiteten Glück zu ebnen.
Im politischen Alltag der Basler Politik lässt sich dieser Unterschied bestens an verschiedenen Themenfeldern aufzeigen:
Bildung: Die obligatorische Schulpflicht ist eine historische Errungenschaft der Freisinnigen, weil sie allen Kindern Chancengleichheit durch gute Bildung ermöglichen wollte. Heute ist daraus der Versuch der Gleichmacherei geworden. Die «richtigen» Lehrmittel werden von oben herab vorgegeben, die elterliche Autorität beispielsweise bei der Znüniwahl unterlaufen. Alle sollen im gleichen, «richtigen» System geschult werden. Wenn bald 50 Prozent der Kinder heilpädagogischen Massnahmen unterliegen, deutet dies darauf hin, dass jede Abweichung von der Norm pathologisiert und therapiert wird. Freisinnige setzen sich demgegenüber für Lehrmittelfreiheit, eine freie Schulwahl und die Wiedereinführung von Kleinklassen ein. Erziehung soll weiterhin Sache der Eltern bleiben.
Digitalisierung: Die Sozialdemokraten treten bei Digitalisierungsprojekten auf die Bremse. Innovative Impulse aus SP-regierten Departementen sind nicht ersichtlich, denn es umtreibt sie die Angst vor Stellenabbau in der öffentlichen Verwaltung und damit vor Protest der hauseigenen Gewerkschaften. Freisinnige hingegen wollen die Chancen der Digitalisierung nutzen, um einerseits die Verwaltung effizienter und andererseits das Leben für die Bürgerinnen und Bürger einfacher zu machen. Im besten Fall werden dadurch personelle Ressourcen frei, die anderweitig eingesetzt werden können. So wie beispielsweise bei der Kantonspolizei, wo dank Digitalisierungsprojekten mehr Polizeipräsenz auf der Strasse möglich wurde, ohne zusätzliche Polizeikräfte anzustellen. Deshalb fordern Freisinnige auch von «linken» Departementen entsprechende Fortschritte, beispielsweise mit einer Online-Steuererklärung, einer Online-Baubewilligung und der Möglichkeit, flächendeckend Online Termine mit der Verwaltung zu vereinbaren, wie das heute schon beim Passbüro möglich ist.
Wirtschaft: Weil sie mit ihren wirtschaftspolitischen Initiativen auf nationaler Ebene scheitern, versuchen Linke auf Umwegen die Wirtschaft zu dem zu zwingen, was sie für richtig erachten. Hebel dafür ist vermehrt das Beschaffungswesen. Um öffentliche Aufträge bewerben darf sich nur, wer einen immer länger werdenden Katalog an Kriterien erfüllt. So soll der Staat unter anderem die Lohngestaltung und das Geschlechterverhältnis kontrollieren. Dagegen verwehren sich Liberale, denn sie wissen um den harten Kampf der Unternehmerinnen und Unternehmer darum, im alltäglichen Wettbewerb bestehen und so für Arbeitsplätze und unseren Wohlstand sorgen zu können.
Soziales: Während der Basler Sozialminister sich dessen rühmt, die Sozialausgaben des Kantons hochgefahren zu haben (obwohl dies bedeutet, dass mehr Menschen in direkte Abhängigkeit von Sozialleistungen des Staates geraten sind), versuchen Freisinnige den Menschen wieder auf eigene Beine zu helfen. So beispielsweise mit der Forderung nach einer besseren Betreuungsquote in der Sozialhilfe.
Die Unterschiede sind weiterhin gross
Die politischen Kampflinien sind also immer noch vorhanden. Auch wenn sie sich natürlich hin zu den aktuellen Fragen unserer Zeit verschoben haben. Aber die Unterschiede zwischen linken Kollektivisten und liberalen Individualisten sind weiterhin gross. Auch wenn das meiner Meinung nach offensichtlich ist, zeigt der Kommentar von Patrick Marcolli, wie verzerrt die Wahrnehmung teilweise zu sein scheint. Es ist schlicht nicht nachvollziehbar, wie er von «moderaten Steuern» in unserem Kanton schreiben kann, obwohl sowohl die Einkommens- als auch die Vermögenssteuern im schweizweiten Vergleich hoch sind. Wenn er behauptet, Rot-Grün stehe für «eine möglichst gut funktionierende Zusammenarbeit mit dem Landkanton», dann macht das beinahe fassungslos, angesichts der latenten Feindlichkeit und Abschätzigkeit, mit der sich vor allem Linke regelmässig gegenüber dem bürgerlich regierten Baselbiet äussern. Es sei an die Debatten der vergangenen Jahre zur Universität, zur Spitalfusion und zur Kulturfinanzierung erinnert. Aus Sicht eines Kollektivisten darf es eben nicht sein, dass gleich nebenan ein anderes Politikmodell gepflegt wird, weil man sein eigenes für überlegen hält.
Die Alternative ist da
Entgegen der Meinung von Marcolli ist die Sozialdemokratie daher ganz sicher alles andere als alternativlos. Sie ist in ihrer bisherigen Regierungszeit satt, bequem und überheblich geworden. Das Herunterspielen der Messekrise, der BVB-Krise, der Museumskrise oder des Biozentrum-Debakels als «Skandälchen» oder «Aufreger», zugedeckt mit viel Geld aus der steuerzahlenden Wirtschaft, gehört zum altbekannten Muster der Verharmlosung und Schönrednerei.
Ja, der Begriff «bürgerlich» mag veraltet oder überholt sein. Eine echte freiheitliche Politik, die als Alternative zur kollektivistischen Sozialdemokratie für individuelle Freiheit kämpft, ist es hingegen noch lange nicht.